Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Wie regeln wir ein friedliches Zusammenleben? Wie schaffen wir Gerechtigkeit? Wie gelingt es, dass niemand abgehängt wird? – Diese Fragen muss man sich immer wieder stellen, wenn man in der Politik tätig ist. Die gleichen Fragen stellen sich aber auch andere – z.B. Vertreterinnen und Vertreter von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Ich will mit verschiedenen gläubigen Menschen und Verantwortungsträgern von christlichen, jüdischen und muslimischen Glaubensgemeinschaften darüber diskutieren und mehr darüber erfahren, wo sie ihre Einflussmöglichkeiten sehen. Und ich will wissen, wo die Schnittstellen von Politik und Religion sind. Meine „Frühjahrsreise 2018“ habe ich daher unter die Überschrift „Koblenz aus der Sicht von Kirchen und Religionsgemeinschaften“ gestellt. An zwei Tagen suche ich insgesamt neun verschiedene Institutionen auf und führe interessante und nachdenkliche Gespräche.

Zum Auftakt besuche ich in meinem Heimatstadtteil Metternich das Pfarrer-Ehepaar Beate Braun-Miksch und Andreas Miksch, die sich eine Pfarrstelle teilen und die ich schon lange kenne – haben sie doch unser jüngstes Kind getauft und alle drei konfirmiert. Wir sprechen über die schwierige Situation in unserem Stadtteil, dem eine echte „Dorfgemeinschaft“ fehlt. Sowohl die Kirche als auch die Parteien versu-chen immer wieder, daran etwas zu ändern, aber bei 10.000 Einwohnern bleibt es schwierig. Hätte ein Ortsbeirat mehr Gemeinsamkeit stiften können? Andreas Miksch und ich sind hier unterschiedlicher Meinung. Wie alle Koblenzer haben es auch die Metternicher ganz klar nicht gewollt. Als wichtigste Themen, um die ich mich als Politikerin kümmern möge, geben sie mir „Wohnraum“ und „ÖPNV“ mit – zwei Themen, die tatsächlich ganz oben auf meiner Agenda stehen.
Wir sprechen auch über die Ökumene, die interkulturelle Öffnung der evangelischen Kirche und die Zusammenarbeit der Glaubensgemeinschaften in Koblenz. Beate Braun-Miksch begrüßt den Zusammenschluss der muslimischen Gemeinden in einer Arbeitsgemeinschaft, was die Kontakte erleichtere. „Wie weit toleriert man sich denn in Koblenz gegenseitig?“, will ich wissen. „Vollkommen“, berichtet Beate Braun-Miksch und beschreibt ihre Haltung: „Andere Religionen sind auch gottgegeben.“ Auch im Koran finde sich eine entsprechende Stelle (Sure 11: Vers 118): „Und hätte dein Gott es gewollt, so hätte er die Menschen alle zu einer Gemeinde gemacht.“

Diese Toleranz ist auch das Thema der Veranstaltung „Islam gegen Rassismus“ der Ahmadiyya Muslim Jamaat im Historischen Rathaussaal am selben Tag. Als Beleg für die religiöse Toleranz des Islam referiert Mohammad Luqman Majoka die überlieferte Begebenheit, dass Mohammed zu einem christlichen Gottesdienst in seiner Moschee eingeladen habe. Die Vielfalt der Menschen sei gottgewollt und die Zer-störung des Friedens in einer Gesellschaft das größte Unrecht.

In Koblenz sei es friedlicher als an anderen Orten, sagt Dechant Thomas Hüsch in meinem dritten Gespräch. Dies liege vielleicht daran, dass Koblenz eine Beamtenstadt sei und die Menschen materiell ein bisschen besser abgesichert seien als anderswo. Auch auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms habe man nie das Gefühl gehabt, „dass etwas kippt“. Diese Beschreibung ist besonders vor dem Hintergrund interessant, dass am selben Wochenende im Süden von Rheinland-Pfalz, in Kandel, zwei Demonstrationen stattfinden: Eine Rechtsgerichtete, unverhohlen Fremdenfeindliche und eine doppelt so große Gegendemonstration von einem breiten Bürgerbündnis.
Thomas Hüsch ist der Meinung, die Kirchen haben ihre Verantwortung für den ge-sellschaftlichen Frieden wahrgenommen, da die Willkommenskultur stark durch die Kirchen mitgetragen worden sei. Es liege auch an der deutlichen Positionierung der Kirchen, dass der Konflikt in Deutschland nicht tiefer sei. Doch wieviel Kraft haben die Kirchen in Zukunft noch? Die katholische Kirche befindet sich in einem Prozess der organisatorischen und inhaltlichen Neuausrichtung. Ausführlich sprechen wir über die Synode und die beschlossene Reform mit der Zusammenfassung zahlreicher Pfarreien. „Wir wollten kein Reförmchen, sondern eine Reform, die langfristig wirkt“, berichtet der Dechant, der – wie Schwester Scholastika – Teilnehmer der Synode war.

Die Neuapostolische Kirche durchlebte in den vergangenen Jahren insbesondere inhaltliche Reformierungsprozesse, die sich zum Beispiel im entstandenen Kate-chismus als zentralem Lehrwerk zeigen. Wie Priester Simon Gramlich, Evangelist Nicolai Glasenapp und die Öffentlichkeitsbeauftragte Andrea Gleim erwähnen, steht bei ihnen im Gegensatz zur evangelischen oder katholischen Lehre die kon-krete Erwartung der baldigen Wiederkehr von Jesus Christus besonders im Vordergrund. Akzeptanz und Toleranz gegenüber Homosexuellen wie Offenheit gegenüber Fremden entsprechen aus neuapostolischer Sicht christlichen Grundwerten und der gelebten Umsetzung des Evangeliums. Die Neuapostolische Kirchengemeinde Koblenz ist seit vergangenem Jahr in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Koblenz (ACK) tätig und beteiligt sich an der 15. Nacht der offenen Kirchen am 27.04.2018. Von der Politik wünschen sie sich, dass die Orientierung an Werten und Glaubhaftigkeit in ihr eine wichtige Rolle spielen.

Der letzte Gesprächstermin an diesem Tag führt mich zum Vorsitzenden des Landesverbands der jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz, Avadislav Avadiev. Wir treffen uns in den Räumen der Jüdischen Kultusgemeinde neben der Synagoge im Rauental. Wie Avadiev stammen die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Koblenz aus der ehemaligen Sowjetunion und kamen als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Das Durchschnittsalter beim anschließenden Sabbat-Gottesdient, an dem ich teilnehmen darf, ist nicht mehr ganz jung, aber die Synagoge ist gut besucht. Das größte Problem der Gemeinde ist die Unzulänglichkeit der Synagoge, die als umgewandelte Trauerhalle neben dem Friedhof nicht koscher ist. Das Thema Neubau stockt immer wieder aus unterschiedlichen Gründen. Ich verspreche, nachzuhaken und im Rahmen meiner Möglichkeiten bei der Realisierung mitzuhelfen. Was den interreligiösen Dialog angeht, so sind die Kontakte zu den christlichen Kirchen gut, doch wünscht man sich mehr Kontakt zu den islamischen Gemeinden. Dies ist auch wichtig, um dem Antisemitismus entgegenzutreten. In diesem Zusammenhang lobt Avadiev die Einrichtung des bundesweit ersten Antisemitismus-Beauftragten durch die Landesregierung von Rheinland-Pfalz.

Der zweite Tag der Reise beginnt mit einem Besuch im Kloster der Dominikanerinnen auf dem Arenberg. Die Generalpriorin, Schwester Scholastika, hat mich schon bei einer anderen Begegnung beeindruckt, und auch diesmal erreicht unser Gespräch in kurzer Zeit einer Vertrautheit und Tiefe, wie man sie nur selten findet. Schwester Scholastika ist belesen, politisch interessiert und stellt selbst viele Fragen: Wie erreichen Politik und Kirche die Menschen, die sich abgehängt fühlen? Wie geben wir ihnen Sicherheit und Heimat? Welche Bedeutung hat das Transzendente, hat Gott in unserer Gesellschaft? Wo bleibt bei der Digitalisierung das Menschliche, die Seele? Wie vermitteln wir Jugendlichen das Gefühl, etwas bewirken zu können, aber auch Nähe zu spüren? Wie finden wir angesichts des Grauens in Syrien neue Wege zum Frieden? Wie schafft man es als Träger von politischer oder kirchlicher Verantwortung, authentisch zu sein, Zweifel zuzulassen, sich zurückzunehmen, aber trotzdem Orientierung zu bieten? – Gerne hätte ich stundenlang mit dieser klugen Frau weiter diskutiert und hole es hoffentlich bald nach. Das Kloster Arenberg als Begegnungsstätte schafft mit seiner Helligkeit und Ruhe jedenfalls die richtige Atmosphäre zum Nachdenken und Reden über zentrale Fragen.

Auch die Zeugen Jehovas sind eine christliche Glaubensgemeinschaft, und ich möchte auch ihren Beitrag für die Gesellschaft und ihre Rolle im interreligiösen Dialog kennenlernen. Für die Zeugen ist die Bibel als Gottes Wort wörtlich zu nehmende, unbedingte Wahrheit. Diese Wahrheit zu verkünden, betrachten sie als ihren Auftrag und verbringen daher viel Zeit mit Predigt und Mission. Dabei streben sie ein einfaches Leben an, da das wirkliche Leben erst noch komme. Die Zeugen Jehovas leben gemäß dem Satz „Mein Königreich ist nicht von dieser Welt“ und ha-ben daher nicht viel Bezug zu politischen Fragen. So verzichten sie auch auf ihr Wahlrecht. Sie betrachten sich auch nicht als Teil der Ökumene und sind nicht Mitglied in der ACK. Da sie davon überzeugt sind, die eine Wahrheit, nämlich das richtige Verständnis der Bibel, zu kennen, ist es nur konsequent, dass sie andere Religionen daneben nicht als gleichwertig, sondern nur als Irrweg, betrachten können. Das macht die Zusammenarbeit zwar schwierig, aber auch sie engagieren sich für andere, z.B. im Bereich der Katastrophenhilfe.

Für den Superintendenten des evangelischen Kirchenkreises Koblenz, Rolf Stahl, ist der interreligiöse Dialog eine ständige Herausforderung. Ähnlich wie Dechant Thomas Hüsch ist er dankbar dafür, dass wir in Koblenz in Bezug auf die Sicherheit „auf einer Insel der Glückseligen“ leben. Die Zusammenarbeit mit dem Integrationsamt bezeichnet er als „traumhaft“. Und doch sei der Bedarf nach Begegnung der Religionen ungedeckt. Die relativ sorglose Situation verführe auch zu Bequemlichkeit. Lange sprechen wir über eine Reform des Religionsunterrichts. Rolf Stahl wünscht sich ähnlich wie in Hamburg eine zentrale, staatliche Ausbildungsstelle, aber mehr Pluralität der Lehrenden. Alle Kinder sollten zusammen unterrichtet werden – aber mal von einem evangelischen oder katholischen Christen, mal von einem Moslem oder einem Juden. Dabei sollten sie ihr Bekenntnis nicht für sich behalten, „denn Glaube muss immer bekennend sein“. Man müsse sich immer wieder klar machen, was für ein hoher Wert die Religionsfreiheit sei. Die positive Energie der Religionen gelte es zu nutzen.

Der letzte Termin der beiden Tage führt mich nach Siershahn im Westerwald. Dort feiert die Alevitische Gemeinde Koblenz und Umgebung heute ihr Newroz-Fest. Newroz bedeutet „der neue Tag“ und Frühlingsanfang und fällt auf den 21. März, der gleichzeitig der Geburtstag von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohammed und – nach alevitischer Auffassung – dessen rechtmäßigem Nachfolger ist. Es wurden aber nicht nur diese beiden Anlässe gefeiert, sondern auch die Gründung der Alevitischen Landesvertretung als Zusammenschluss aller alevitischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz unter einem Dach. Damit besteht ein gemeinsamer Ansprechpartner, z.B. für die Landesregierung, was Vieles erleichtert. Die vorwiegend in der Türkei, aber auch in Syrien und dem Irak beheimatete Glaubensrichtung wird in der Türkei diskriminiert und verfolgt. Umso mehr schätzen die Aleviten die in Deutschland herrschende Glaubensfreiheit und wissen, dass dies eine zentrale Voraussetzung für eine freiheitliche Gesellschaft und ein friedliches Zusammenleben ist.

In sehr verdichteter Form ist mir in den beiden Tagen meiner Frühjahrsreise klar geworden, wie unwichtig es ist, ob man Ostern, Pessach oder Newroz feiert, ob man als Katholik den Ostersonntag oder als Protestant den Karfreitag wichtiger findet – entscheidend ist, dass man sich gegenseitig respektiert. Manchmal gelingt dies in Koblenz schon recht gut, aber es könnte auch noch besser sein. Vielfalt muss als Bereicherung betrachtet werden – auch im Schulunterricht -, ohne seine eigene Überzeugung aufzugeben. Kirche und Politik haben viele Schnittstellen und ge-meinsame Aufgaben – eine davon ist der Schutz der Religionsfreiheit.