Wie geht es Menschen in Koblenz, die aufgrund eines Handicaps nicht laufen, schlecht sehen oder hören, keine Regel-KiTa besuchen oder nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt eingestellt werden können? Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es in unserer Stadt und was müsste noch besser werden? An drei Tagen in den Herbstferien hat Anna Köbberling, MdL, versucht, das Thema „Leben mit einer Behinderung“ aus möglichst vielen Perspektiven kennenzulernen.
Der erste Besuch führt sie ins Haus Eulenhorst in ihrem Heimatstadtteil Metternich. In dieser Einrichtung in Trägerschaft des Caritasverbands Koblenz leben derzeit 38 erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Der Altersschnitt der Bewohner ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Viele leben bereits seit Jahrzehnten im Haus und haben dort ihre Heimat gefunden. Die Jüngeren arbeiten zumeist in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, die Älteren befinden sich bereits in Rente und werden auch tagsüber in der Einrichtung betreut. Vor allem für die Begleitung älterer Menschen mit geistiger Behinderung wurde die Einrichtung ab 2014 aufwändig umgebaut. Die Rentnergeneration mit geistiger Behinderung fehlte in unserer Gesellschaft aufgrund der Gräueltaten der Nationalsozialisten lange Zeit, und man wusste nur wenig über ihre speziellen Bedürfnisse, die auch einen geänderten Leistungsbedarf nach sich ziehen. Die Arbeitszeiten- und Inhalte mussten auf die neuen Bedürfnisse der Bewohner umgestellt werden. Dass die Bewohnerinnen und Bewohner glückliche Menschen sind, sieht man ihnen im Gespräch aber an…
Eine ganze Reihe von Problemen sieht der Vorsitzende des Vereins „Der Kreis – Club Behinderter und ihrer Freunde e.V.“ (kurz: „der Kreis“), André Bender. Auf die Frage, ob es Menschen mit Behinderungen in Koblenz besser oder schlechter gehe als in anderen Städten, antwortet er ohne zu zögern: „Schlechter.“ Als Beispiele nennt er fehlende behindertengerechte Wohnungen, einen nur eingeschränkt barrierefreien ÖPNV und insgesamt zu wenig Einfühlungsvermögen durch die Verwaltung. Als konkretes Beispiel führt er die viel zu komplizierte und langwierige Prozedur bis zur Ausstellung eines Parkausweises an – eine Kritik, die Köbberling auch von anderen zu hören bekommt und um die sie sich kümmern will.
Wie geht es Familien mit einem behinderten Kind? Köbberling besucht zwei Familien – eine mit einem geistig retardierten Kleinkind, eine mit einem schwerst körperbehinderten jungen Erwachsenen. Die Abgeordnete wird herzlich begrüßt und erlebt lebensfrohe und fröhliche Familien mit einem starken Zusammenhalt. Dies kann über den beschwerlichen Alltag aber nicht hinwegtäuschen. Trotz der ungleichen Ausgangssituation sind die Wünsche ähnlich: eine weniger ablehnende Grundhaltung von Krankenkassen und Verwaltung, mehr Rücksichtnahme in Kinos, Restaurants und an anderen öffentlichen Orten. Die Familie mit dem jüngeren Kind vermisst einen einheitlichen Ansprechpartner, der nach der alles verändernden Diagnose die Eltern auf dem Weg durch die Behörden und Therapieentscheidungen begleitet. Der schwerst körperbehinderte 22jährige Nikita wünscht sich, dass jedes Restaurant eine mobile Rampe besitzt, mit der sich ein bis zwei Stufen am Eingang überwinden lassen, die für seinem Elektrorollstuhl ein unüberwindliches Hindernis darstellen. Beim Bau oder der Renovierung von öffentlichen Gebäuden scheint insgesamt eine Stelle zu fehlen, die die Barrierefreiheit verbindlich prüft.
Um Kinder mit Behinderungen geht es auch beim Besuch in der KiTa der Lebenshilfe. Die Leiterin, Daniela Mayer, berichtet, dass der vorgegebene Personalschlüssel für die reale Betreuungssituation bei weitem nicht ausreicht. Kinder mit Behinderungen verlangen z.B. bei den Mahlzeiten sehr viel Zuwendung und Zeit. Insgesamt gibt es nach ihrer Information in Koblenz zu wenige KiTa-Plätze für Kinder mit Behinderungen – dies sollte endlich ehrlich ausgesprochen werden. In allen Stadtteilen sollte es eine integrative KiTa mit ausreichendem Personal geben.
Erwachsene Menschen mit Behinderung, die auf dem freien Arbeitsmarkt keine Chance haben, arbeiten häufig in den Rhein-Mosel-Werkstätten – der sechsten Station der Reise. Hier wird versucht, für jeden Menschen entsprechend seinen Fähigkeiten und Neigungen einen Arbeitsplatz zu gestalten, indem Arbeiten in kleine Einzelschritte zerlegt werden, die auch mit Handicap zu bewältigen sind. Die Werkstätten bieten Leistungen an, die von den Unternehmen der Region nachgefragt werden. Sie können zwar nicht mit der Produktionszeit und im Personalaufwand konkurrieren, wohl aber mit der Qualität. Wie es in den meisten anderen Betrieben einen Betriebsrat gibt, vertritt ein Werkstattrat die Interessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Der langjährige Vorsitzende, Achim Etzkorn, wägt die Vor- und Nachteile eines solchen geschützten Bereichs gegenüber einer Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt sorgfältig ab, und betont, dass für viele Menschen nur eine Werkstatt als Arbeitsplatz in Frage komme.
Der Behindertenbeauftragte der Stadt Koblenz, Joachim Seuling, macht die Abgeordnete auf eine ganze Reihe von Missständen aufmerksam, vor allem aber darauf, dass Behindertenbeiräte – anders als z.B. Seniorenbeiräte oder Beiräte für Migration und Integration – nicht landesgesetzlich vorgeschrieben sind und folglich von den meisten Kommunen (so auch in Koblenz) nicht eingerichtet werden. Der Behindertenbeauftragte darf an den Sitzungen der Gremien der Stadt Koblenz wie Ausschüssen oder Arbeitsgruppen zwar mit beratender Stimme teilnehmen, Anträge und Anfragen darf er dort aber nicht stellen. Zudem sprach sich auch Seuling für die Einrichtung eines Lotsen aus, der bei allem helfen solle, das nur auf Antrag zu erhalten sei.
Für pflegebedürftige, zumeist ältere Menschen existiert bereits eine solche Lotsenfunktion: die mit Landesmitteln unterstützen Pflegestützpunkte. Anna Köbberling besucht als letztes Ziel ihrer Reise den Pflegestützpunkt Mitte in der Bogenstraße. Ziel der Beratung durch die zugewandten und gut geschulten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ist es, hilfsbedürftigen Menschen möglichst lange ein Leben in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen und einen Heimaufenthalt zu verhindern oder hinauszuschieben. Die Beratung ist für Betroffene und Angehörige kostenlos. Dabei wird geklärt, welche Hilfen benötigt werden – wie z.B. Essen auf Rädern, eine zeitweise Betreuung oder Pflege.
Am Ende ihrer dreitägigen Herbstreise hat Anna Köbberling eine ganze Liste von Aufträgen in ihr Notizbuch geschrieben. In den nächsten Wochen werden viele Briefe zu schreiben und Telefonate zu führen sein…